Die früher in der Einhardbasilika befindliche Figur aus Lindenholz ist mit einer Höhe von 102 cm von stattlicher Größe. Sie kann als Teil eines Altars angesehen werden, wobei am Fuß der Figur, am Faltensaum des Gewandes, offenbar etwas abgesägt wurde, an der rechten Seite befindet sich eine bis etwas unterhalb der Kniehöhe reichende Wand, in dieser wiederum eine Aussparung – was war darin möglicherweise eingefügt?
Was beim Blick auf die sitzende Figur jedoch sofort auffällt, ist das Fehlen der Hände – man schaut auf leere Ärmelöffnungen. Vermutlich wurden diese Hände, die ursprünglich die Tochter der Heiligen Anna, Maria, und deren Sohn Jesus trugen, entfernt, denn beim Blick in einen der Ärmel sind kleine hölzerne Zapfen zu sehen, die zur Befestigung der Hand dienten. Es handelte sich bei dem Kunstwerk also um eine Heilige Anna Selbdritt, eine Darstellung, deren früheste Beispiele vom Anfang des 14. Jahrhunderts stammen und die in besonderer Weise der frommen Andacht gewidmet wurde. Möglicherweise war die Figur ursprünglich farbig gefasst, noch deutlich zu erkennen ist eine dunkle, beinahe schwarze Heraushebung der Augäpfel. Heute freilich ist die dunkel-holzfarbene Oberfläche der Plastik deutlich gezeichnet von Schadspuren durch Holzwurmbefall, trotz erfolgter Restaurierungsarbeiten.
Das Werk ist Ausdruck der Übergangszeit von der Spätgotik zur Renaissance, wie an einer Reihe von Details erkennbar wird. So trägt das Gesicht die Züge eines individualisierten Menschen, es ist relativ schmal, dabei ebenmäßig, gegliedert durch eine schlanke, aber doch ausgeprägte Nase, der schmale Mund ist geschlossen. Der lebendige Gesichtsausdruck ist geprägt von einem ernsten Blick, der eine Vorahnung ausdrückt von der Leidensgeschichte Jesu. Die körperliche Ausformung wie die leicht vorgebeugte Haltung der Heiligen Anna ist realistisch und natürlich, was seine Entsprechung in dem natürlichen Sitz und Faltenwurf der Gewänder findet: die Heilige trägt ein am Oberkörper eng anliegendes Kleid, welches in der Leibesmitte durch einen Gürtel gehalten wird und von den Knien zu den Füßen hinab einen reichen, sehr natürlich wirkenden Faltenwurf bildet. Die rechte Fußspitze lugt unter einer Falte des Kleides hervor. Eine Art Brusttuch, das ebenfalls in vielen Falten liegt, reicht hinauf bis über das Kinn und bedeckt auch den unteren Teil der Wangen, es läuft an seinem breiten Ende oberhalb der Brust glatt in einem Fransensaum aus. Ähnlich ist auch der Rand des Schleiers gestaltet, der über dem Kopf der Heiligen Anna liegt und bis über die Schultern fällt. Schließlich ist sie noch mit einem weiten Umhang bekleidet, der gleichfalls einen üppigen Faltenwurf aufweist und von links über die Knie gelegt ist.
Die Plastik weist insgesamt eine stilistische Verwandtschaft mit Werken Tilman Riemenschneiders (1460 – 1531) auf, es ist nicht auszuschließen, dass wir hier eine Arbeit aus der Riemenschneiderschule vor uns haben; von Kunsthistorikern wird die Entstehung der Figur um das Jahr 1510 datiert.
Christoph Becker