Jeder Besucher des Landschaftsmuseums Seligenstadt, der sich in die Räume zur Stadt- und Abteigeschichte im ersten Stock begibt, geht direkt auf das Bild zu, aber möglicherweise bleibt es oft wenig beachtet, wie auch Hans Schmandt vielen kaum bekannt sein dürfte. Der Maler, 1920 in Gießen geboren, war von 1957 bis zu seinem Tode 1993 in Dietzenbach ansässig; schon vor dem Zweiten Weltkrieg stattete er einige Kirchen und Gemeindesäle in Oberhessen mit Wandbildern aus, was er nach der Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft in den Fünfzigerjahren wieder aufnahm. Er widmete sich dann vor allem der Landschaftsmalerei.
Wenden wir uns nun dem „Alten Baum im Odenwald“ zu; mit mächtigem Stamm und weit ausladender Baumkrone erhebt sich dieser Solitär, in einen klaren Himmel hinaufragend und das Sonnenlicht in sich aufsaugend. Infolge der relativ dunkel gehaltenen, flächigen Ausführung von Laubwerk und Geäst ist die Art des Baumes nicht zu bestimmen, es handelt sich nicht um eine naturalistische Darstellung. So verschwimmen auch Umgebung und Hintergrund in einem unbestimmten Grün-Braun, der Blick des Betrachters wird ganz auf den Baum fokussiert, und dabei können sich mancherlei Gedanken und Assoziationen einstellen: angesichts des mächtigen Baumes kann sich der Mensch seiner Kleinheit und der Kürze seiner eigenen Existenz bewusst werden und zugleich die majestätische Schönheit dieser Hervorbringung der Natur bewundern. Einzeln stehende, oft von weither sichtbare Bäume sind Landmarken, nicht selten hatten sie auch eine besondere Bedeutung in der Vorstellungswelt unserer Vorfahren, in Sagen und Mythen; so kann man an frühgeschichtliche Kultstätten oder germanische Thingplätze denken, aber auch in unserer Zeit noch finden sich in katholischen Landstrichen die Bildbäume, zumeist solche von herausragenden Größe, an denen, als Zeichen der Volksfrömmigkeit, Darstellungen der Gottesmutter, von Christus oder eines Heiligen als gemaltes Bild oder geschnitzte Figur angebracht sind.
Dieses Bild ist typisch für die Natur- und Landschaftsmalerei von Hans Schmandt: seine Darstellungen von Bäumen, Landschaften, auch dörflichen Gebäuden sind geprägt von großer Stille, von der Abwesenheit des Menschen. Die Strukturen der Landschaft, die Gestalt des Baumes, der Himmel, die Wolken, das Licht sind bestimmend und füllen die Bilder ganz aus, worin man eine gewisse Nähe zur Romantik erkennen mag. Diese Landschaften sind zwar nicht vom Menschen unberührt, nicht in einem ursprünglichen Naturzustand, aber die Gegenwart des Menschen und sein Einwirken werden ganz zurückgenommen. So kann sich auch der Betrachter ausschließlich dem Gegenstand, der Landschaft, der Natur in ihrer Stimmung wie zum Beispiel dem mächtigen alten Baum im Odenwald zuwenden und dabei seinen Gedanken, seinen Assoziationen, ihren Lauf lassen.
Christoph Becker