Ein rätselhafter Fund

Das Landschaftsmuseum (LMS) zeigt im 1. Stock am Ende des links und rechts von Zellen der Mönche gesäumten Ganges in einer großen Glasvitrine ein Sandsteinrelief. Es fällt dem Besucher durch seine zentrale Platzierung zwischen einer herben, archaisch anmutenden spätgotischen Pieta (Lindenholz, geschaffen um 1500) und einer feingearbeiteten Sitzfigur der Hl. Anna (Rest einer Anna-Selbdritt-Gruppe, Riemenschneidereinfluss, frühes 16. Jahrhundert) auf. Ein knapper Hinweis gibt Auskunft über den Fundort des Reliefs (1911 beim Abbruch des Kelterhauses) und den Zeitraum der Entstehung (aus dem 15. Jahrhundert).

Das Sandsteinrelief mit den maßen 66x45x16 cm ist relativ gut erhalten und weist nur geringe Beschädigungen und vereinzelte, unregelmäßig verteilte Schlagspuren auf. Bei genauem Hinsehen lassen sich noch Reste einer Bemalung erkennen. Die Oberkante der Platte ist schräg abgearbeitet.

Das Relief zeigt Christus gefesselt an der Martersäule, beiderseits flankiert von zwei geißelnden Schergen. Christus, nur bekleidet mit einem Lendentuch lässt demütig mit geneigtem Haupt, welches von einem Nimbus umgeben ist, die Marter über sich ergehen. Eine über Christi Nimbus beginnende Bogenzier lässt sich wegen der schrägen Abarbeitung nicht mehr deuten. Die beiden, etwas kleineren Schergen, tragen ein knappes, kurzes in der Taille zusammengehaltenes Gewand, dessen mittige Falten sorgfältig herausgearbeitet sind. Bei einem der Knechte ist deutlich eine phrygische Mütze zu erkennen. Das spitz zulaufende Schuhwerk verweist in die spätgotische Zeit. Die Gesichter der Gruppe sind kaum mehr wahrzunehmen. Ohne erkennbare Regung verrichten die Knechte, breitbeinig, mit beidhändig gehaltenen Rutenbündeln, zum Schlag ausholend, ihren furchtbaren Auftrag. Der Künstlerhandwerker versucht der etwas ungelenken Darstellung eine gewisse Tiefe zu geben, indem er die Gruppe auf eine schräg nach hinten verlaufende, leichte Erhebung stellt.

Die dargestellte Szene lässt auf den ersten Blick an eine Station des Kreuzwegs Christi denken. Die Kreuzwegsfrömmigkeit, die auf eine betend – meditierende Betrachtung des Leidenswegs Christi auf der Via Dolorosa in Jerusalem zurückzuführen ist, wurde durch die Franziskaner im 16. und 17.Jahrhundert in unseren Breiten populär. Der älteste, vollständig erhaltene Kreuzweg (um 1500) in unserer Region ist in Bamberg zu finden. Viele franziskanisch geprägte Klöster der näheren und weiteren Umgebung – man denke nur an das Käppele in Würzburg, den Kreuzberg in der Rhön oder das Kloster Altstadt bei Hammelburg – pflegen bis heute als Wallfahrtsziele das Gedenken an den Kreuzweg des Herrn. Die aufgestellten Bildwerke erinnern an die 14 Stationen des Passionswegs Christi und halten die Christen dazu an, sich betend in dieses Leiden zu versenken. In den Evangelien (z.B. Matthäus Kapitel 27, Vers 26) heißt es: Pilatus ließ Jesus geißeln und übergab in dann zur Kreuzigung.

Die Geißelung Christi ist aber üblicherweise nicht Teil eines Kreuzwegs. Die erste Station zeigt in aller Regel die Verurteilung Jesu durch Pilatus.

Die Zeit der Entstehung des Reliefs und die nicht übliche Darstellung der Geißelung als Station des Kreuzwegs scheinen darauf hinzuweisen, dass das Relief nicht einem Kreuzweg zuzurechnen ist. Zumal auch Hinweise fehlen, dass es im benediktinischen Seligenstadt mit seiner Wallfahrtstradition überhaupt einen Kreuzweg in Form von Bildstöcken gegeben hat. Auch lassen sich in den Seligenstädter Annalen keine Angaben zu einem solchen Kreuzweg finden.

Verweist die derbe Darstellung der Geißelung etwa auf einen bürgerlichen Auftraggeber außerhalb des Klosters? Dies könnte möglich sein, da die klösterlichen Arbeiten im Verlauf der Zeit durchweg qualitätvoller anmuten. Wir wissen es nicht.

Vermeintliche Gewissheit scheint die Angabe des Fundortes zu versprechen. Im LMS wird der Besucher darauf hingewiesen, dass das Relief im Jahre 1911 beim Abbruch des (dem südlichen Turm des Westwerks der Basilika vorgelagerten) Kelterhauses entdeckt wurde. Doch leider gibt es darüber aber keinerlei Dokumentation. Das Archivblatt des LMS gibt als Fundort ohne Jahreszahl die „Abtei Seligenstadt Klostermauer“ an. In diesem Bereich des alten Klosters wurden allerdings schon 1870/71 beim Abbruch des vermutlich im 17. Jahrhundert errichteten Keltergebäudes in dessen Außenwand als Baumaterial eine seltsame Figur aus Stein gefunden. Der spektakuläre Fund dieser Figur, des sog. „Lavaboträgers“, ist gut dokumentiert und durch Christian Beutler in seinem Buch „Statua“ umfassend gewürdigt worden. Ein weiterer Fund – im Zuge der Neugestaltung der Kelterhalle – im Bodenbereich dieses ehemaligen Kelterhauses in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, der sog. „Epistelträger“, steht heute im Sommerrefektorium des Prälaturmuseums.

So ist es nicht undenkbar, dass auch das spätgotische Geißelungsrelief , welches dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend als barbarisch empfunden wurde, im Zuge der Barockisierung der Klosteranlage anlässlich der 900-Jahr-Feier der Abtei und der Errichtung der neuen Klostermauer, die man im Jahr 1723 abgeschlossen hatte, als Baumaterial „entsorgt“ und eingemauert wurde. Sein relativ guter Erhaltungszustand spräche dafür. In Seligenstadt hat schließlich die weitere Nutzung von Steinen aus vergangenen Tagen eine lange Tradition – angefangen von wiederverwendeten Römersteinen in der Basilika bis hin zu Teilen von Grabdenkmälern des ehemaligen jüdischen Friedhofs in unserer Zeit. Die mangelnde Nähe eines Steinbruchs mag einer der Gründe dafür gewesen sein.

Die Frage der Entstehung und der Herkunft noch der Fundort des Geißelungsreliefs wird auch nicht durch den Leihvertrag aus dem Jahr 1985 zwischen dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt und dem LMS beantwortet. Lapidar heißt es darin nur: Leihgabe „Steinbildwerk in der Prälatur – Reliefplatte Christus an der Martersäule, beiderseits ein geißelnder Scherge“. Zu Zeiten als das Progymnasium noch teilweise in der Prälatur untergebracht war, stand das Relief unter einem muschelförmig gestalteten Wandwasserbecken, ehe es nach einem Umweg über das Kurfürstenzimmer der Prälatur den Weg an seinen heutigen Standort fand.

Die als Leihgabe bezeichnete Reliefplatte kann somit, muss aber nicht aus Seligenstadt stammen, zumal sie in einer Leihgabenliste verzeichnet ist, die nachweislich auch Stücke enthält, die nicht aus Seligenstadt stammen. Ein rätselhafter Fund, der mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Erhard Glaab