Ein Lebenslauf in Glas

Vom Werden und Vergehen

Man muss schon ein bisschen suchen, bis beim Rundgang durch das Landschaftsmuseum das schöne Glas zu erkennen ist. Als ich es zum ersten Mal in einer Vitrine im Mittelgang des Mönchszellentraktes sah, war ich auf den ersten Blick entzückt von der Schönheit, danach oft berührt von den Aussagen des Dargestellten. Es handelt sich um einen walzenförmigen Becher aus hellem Glas, nur 13,5 Zentimeter hoch, in den der Lebenslauf des Menschen von der Wiege bis zur Bahre eingeschliffen ist. Schlicht ist das Glas, aber qualitätsvoll, und innig ist die Art der Darstellung: ein typisches Objekt der Biedermeierzeit um 1830.

Der Lebenslauf, die Altersstufen des Menschen, sind treppenförmig angeordnet. Es beginnt links unten mit dem Kind in der Wiege. Auf der nächsten Stufe nach oben folgen ein Junge und ein Mädchen im Alter von fünf Jahren, Spielzeug in den Händen haltend. Auf der nächsten Stufe sind beide schon im Alter von zehn Jahren dargestellt. Ein Jüngling mit 20 Jahren hat eine Jungfer neben sich.

Dann kommt ein Mann mit 30 Jahren, seine gegenüber- stehende Frau fest an den Händen haltend. „Das Leben schreitet voran: Mit 50 stehen beide - wohlhabend gekleidet - auf der höchsten Stufe, die mit „Stillstand" unterschrieben ist. Der Zenit des Lebens ist erreicht, der Mensch hält inne, schaut vielleicht noch einmal in die Vergangenheit und weiß, dass die Zukunft nur noch ein Bergab sein kann. Mit 60 geht's Alter an, heißt es dann auch auf der nächsten Stufe nach unten. Zum Greis wird man in der Biedermeierzeit mit 70 und mit 80 Jahren schneeweiß. Ernüchternd heißt es, mit 90 sei der Mensch der Kinder Spott; aber wer die 100 erreicht, hat Gnade bei Gott. Unter den Lebensstufen sind eine Kutsche auf der Fahrt zur Taufe sowie ein Leichenzug auf dem Weg zum Grab dargestellt; eine Sanduhr - Sinnbild der verrinnenden Zeit - befindet sich in der Mitte des Glases.

Was auch in der Dichtung immer schon ein Thema war und bleiben wird - das Werden und Vergehen des Menschen oder der Natur - hier auf diesem Glas wird es wunderbar sinnhaft dargestellt.

MARGRET SCHONEICH  
Erschienen in der Offenbach Post am
 
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