Im Jahre 801 ließ Karl der Große ein beeindruckendes Reiterstandbild des späten 5. Jahrhunderts von Ravenna nach Aachen bringen, wie uns Walahfrid Strabo berichtet. Könnte die Darstellung des spätantiken Ostgotenherrschers Theoderich Einhard als Modell für unsere Reiterstatuette gedient haben?
Das Original des Bronzegusses befindet sich heute im Louvre in Paris, im Landschaftsmuseum ist eine qualitätsvolle Kopie ausgestellt. Das Portrait zeigt einen Herrscher, einen Kaiser in fränkischer und nicht in römischer Tracht, mit Schnurrbart und Lilienkrone: Er trägt einen wallenden Mantel und Lederschuhe, an der Seite eine Schwertscheide; die Steigbügel jedoch fehlen wie es bei den Franken üblich war.
Auffällig ist die Darstellung des Regenten: Ein mächtiges Haupt mit fleischiger Nase auf einem breit ausgesetzten Nacken, ganz so wie es Münzbilder der Zeit zeigen und wie es Einhard in seiner Biographie Karls des Großen schildert: „Der Schädel war rund, die Augen groß und lebhaft, die Nase überragte ein wenig das Mittelmaß."
Das Werk ist ebenso berühmt wie umstritten. Unsicher sind Datierung und Bedeutung der kleinen Figur. Handelt es sich um ein Erinnerungsbild, um ein Portrait oder um eine spätere Idealisierung? Wurde es um 810 in Aachen und vielleicht sogar von Einhard als Portrait Karls des Großen gefertigt? Oder doch erst um 860 und wäre dann ein Bildnis Karls des Kahlen? Die Meinungen der Kunsthistoriker sind geteilt, das fein modellierte Gesicht jedoch dürfte in der Tat ein Portrait sein.
Das Thema des herrscherlichen Reiters ist eine der eindrucksvollsten ikonographischen Darstellungen des frühen Mittelalters und erinnert durch seine unverhohlene Anlehnung an antike Vorbilder an die von Karl dem Großen angestrebte „renovatio regni romanorum et francorum", den selbsterwählten politischen Auftrag der karolingischen Regenten, das fränkische Reich auf der Tradition des römischen Imperiums zu gründen.
HERBERT REISS
Erschienen in der Offenbach Post am 7.8.2009