Fundstücke, die das Herz des Kenners höher schlagen lassen

Die Säulenfragmente in der Größe von eine paar Zentimetern sind die Uberreste eines ehemaligen Kunstwerks. Das Material, aus dem sie geschaffen sind, könnte aufgrund seiner Farbe und seiner erodierten Oberfläche gealterter Gips sein, ist aber in Wirklichkeit Elfenbein. Beträgt ihr Gewicht auch jeweils nur wenige Gramm, gehören sie wegen ihrer Bedeutung dennoch zu den „Schwergewichten" der Sammlungen des Landschaftsmuseums. Der Werkstoff Elfenbein deutet darauf hin, dass es sich hier um etwas Besonderes handeln muss, doch richtig klar wird das Ganze erst, wenn man die Episode der Auffindung der Säulchen erfährt: Im Jahr 1939 hat ein Experte die Seligenstädter Heiligen-Reliquien (hierbei handelt es sich nicht nur um die Reliquien der Heiligen Marcellinus und Petrus) gesichtet und aufgezeichnet. Aus einem Stoffbeutel kamen außer Reliquien die Säulenfragmente, kleine Elfenbein-Formteile, kleine vergoldete Nägel und Beschläge sowie Asche zum Vorschein. Die Objekte machten einen durchgeglühten Eindruck und mussten in früheren Zeiten einer enormen Hitzeeinwirkung ausgesetzt gewesen sein. Eine Erklärung ließ nicht lange auf sich warten: Hier handelte es sich, sofern es keine Knochen waren, um die Reste eines Reliquien-Behältnisses, das primär aus Holz konstruiert war und hinterher zur Wertsteigerung mit Elfenbein kunstvoll verkleidet worden war.

Gründliche Untersuchungen von Säulchen und Elfenbeinplättchen ließen keinen Zweifel, dass es sich um eine Arbeit aus der Zeit Karls des Großen handelt. Elfenbeinarbeiten bildeten damals eine der wichtigsten Kunstgattungen. Und von Einhard, dem vielseitigen Helfer Karls, wissen wir, dass er sich auch um die kaiserlichen Kunstwerkstätten zu kümmern hatte. In einem Brief aus dem Nachlass Einhards (der Brief ist allerdings nicht aus der Feder Einhards, man hat ihn später den Einhard-Briefen zugeordnet) ist von einem „Meister E." die Rede, der ein Kästchen mit elfenbeinernen Säulchen geschaffen habe oder anfertigen ließ.

Unter den Zeitgenossen Einhards ist kein Gelehrter gefunden worden, auf den die Bezeichnung „Meister E." zutreffen würde.

Insofern verdichten sich die Indizien auf die Person Einhards. Die Anzahl erhaltener Elfenbein-Kunstwerke aus der Zeit Einhards ist überschaubar klein, das Landschaftsmuseum kann sich daher glücklich schätzen, wenigstens die „ansehnlichen" Reste eines solchen Kunstwerkes zeigen zu können. Anhand von maßstäblichen, werkstoffgetreuen Säulchen-Rekonstruktionen kann dem Betrachter neben ursprünglicher Größe auch deren anspruchsvolle Ästhetik wieder mitgeteilt werden.

DR. KARL FRANZ

Erschienen in der Offenbach Post am 12.4.2007

 
zurück